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Zur schönen Aussicht

2000 Einwohner, bald 400 Überwachungskameras: Im Altländer
 Viertel von Stade hat sich der Traum vieler Sicherheitspolitiker
 erfüllt
erstmals in Deutschland. Es ist nur der Anfang.


Der Tagesspiegel, 23.10.2007


In Klaus Stahnkes Heimat haben die Wände Augen. Dunkle Augen, klein und starr. Meistens sind die Wände blind, doch immer, wenn Stahnke sie passiert, sehen sie. Dann nämlich setzt ein Bewegungsmelder Kameras in Betrieb, in kleine Halbkugeln aus getöntem Glas eingefasste Kameras. Sie beobachten Stahnke, sobald er aus seiner Wohnung tritt und ins Treppenhaus geht. Sehen ihn ein weiteres Mal, wenn er das Stockwerk darunter erreicht hat. Sie schauen zu, wie er das Haus verlässt. Und wenn er seinen Müll in einen der viereckigen, grünen Container wirft, sind sie schon wieder da. „Mit den Kameras habe ich arge Bauchschmerzen.“ Klaus Stahnke seufzt, aber es ging ihm schon schlechter. Wenn das, was er heute hat, Bauchschmerzen sind, dann hatte er vor ein paar Monaten noch Dauerkoliken.

Viele solcher Augen gibt es in Klaus Stahnkes Heimat, dem Altländer Viertel im niedersächsischen Stade. Die Kameras an den Mülltonnen hat die Stadtverwaltung aufgestellt, die in den Häusern haben die Hausverwaltungen angebracht. Über 300 sind es inzwischen, installiert im Verlauf eines Jahres. Und etwa 100 werden noch hinzukommen. Bei nicht ganz 2000 Einwohnern heißt das ungefähr: eine Kamera für fünf Menschen.

Es ist der Traum vieler Sicherheitspolitiker, millionenfach in Erfüllung gegangen in Großbritannien, in Frankreich ist er auf dem besten Weg dorthin, einmalig noch in Deutschland. Hier ist das alles noch sehr umstritten, gerade hat die Deutsche Bahn wegen der Kameras auf ihren Bahnhöfen einen Preis gewonnen, eine Art Anti-Auszeichnung: den „Big Brother Award“ des Vereins zur Förderung des öffentlichen bewegten und unbewegten Datenverkehrs. Doch was die Politik nicht verordnet, regelt der Markt. Für das laufende Jahr erwarten die Hersteller und Verbände der deutschen Sicherheitsbranche bei der Videotechnik Zuwachsraten von fünf bis zehn Prozent. Behörden kaufen, Schulen und Privatkunden.

Das Altländer Viertel: Entstanden in den 60er Jahren wie viele ähnliche Siedlungen in Deutschland, um möglichst schnell Wohnraum für möglichst viele Menschen zu schaffen, zogen die großen Blocks bald nur noch diejenigen an, die nirgendwo sonst unterkamen. Der einzige Laden im Viertel verkauft Ramschwaren, die einzige Imbissbude ist verlassen. Einen Platz gibt es, ohne Namen, in der Mitte ein großer Pavillon, für Wertstoffe. Eine Weile wurde hier mit Drogen gehandelt. Die schlimmsten Zeiten sind zwar vorbei, das Viertel ist Sanierungsgebiet, doch die Stadtverwaltung spricht immer noch von „Belegungsproblemen“.

Klaus Stahnke ist ein Rentner von 56 Jahren, er läuft durch sein Viertel und trägt eine knallgelbe Jacke und eine verwaschene Jutetasche. Sein Haar ist schütter und schlohweiß und steht in alle Richtungen ab. Lange fühlte er sich vorverurteilt: „Als ich das erste Mal von den Kameras gehört habe, dachte ich: So geht das nicht. Ich bin schließlich ein unbescholtener Mensch.“ Dazu kam, dass ihm niemand seine Fragen beantwortete: Wer sichtet die Aufnahmen? Wie lange werden sie gespeichert? Welche Bereiche werden von den Kameras erfasst? Ein einfacher Zettel im Briefkasten hätte ihm genügt, er kam nie. „Es gibt hier Leute, die einfach sagen: Wozu die Aufregung? Ich habe nichts zu verbergen. Aber das ist Schwachsinn. Wer nichts zu verbergen hat, braucht auch keine Kameras.“

Nichts zu verbergen – das gilt nicht für jeden im Altländer Viertel. Seit dem Morgen des 4. Juni weiß das Stahnke, seit dem Morgen nach dem Einbruch: 230 Euro, die am Vorabend noch auf seinem Wohnzimmertisch gelegen hatten, waren verschwunden, seine Wohnungstür stand offen. Ansonsten sah alles aus wie immer. Die Polizei fand keine Spuren, sagte: „Sie wollen uns was vortäuschen“ – bis sie am folgenden Tag das sah, was die kleinen starren Augen im Hausflur beobachtet hatten. Ein Mann war auf den Aufzeichnungen zu sehen, wie er Stahnkes Wohnung verließ, um 4 Uhr 43. Wie er über die Treppe das Stockwerk darunter erreichte. Wie er aus dem Haus ging. Die Polizei konnte den Einbrecher identifizieren und nahm ihn fest. „Ohne die Kameras hätte ich eine Anzeige bekommen, wegen Vortäuschens einer Straftat“, sagt Stahnke.

Seit jenem Tag denkt er anders. „Normalerweise müssten die Kameras weg. Da aber der Täter gefasst wurde, muss ich sagen“ – Stahnke hebt die Stimme, wird lauter, extradeutlich – „gut, dass es sie gibt, Gott sei Dank.“

Stahnke hat die Kameras nicht liebgewonnen. Er hat nur verstanden, wo er lebt: Der Einbrecher wohnte im Haus gegenüber, war drogensüchtig und hielt Stahnkes Balkontür für eine günstige Gelegenheit zum Einsteigen – und machte nur den Fehler, die Wohnung durch die Vordertür zu verlassen. Vorbei an den Kameras.

Nicht immer ist alles so eindeutig. Es ist schwer zu sagen, ob und wie sehr die Videoüberwachung die Kriminalität im Altländer Viertel senkt. Die Polizeiinspektion Stade spricht von einem „gefühlten Rückgang“, kann das aber nicht mit Zahlen belegen. Zudem sei zu bedenken, dass keine Kamera einen Fall alleine löse. Es kämen beispielsweise Zeugenvernehmungen oder Spurensicherung hinzu. Außerdem: Die Kameras sind nicht ausschließlich da, um das große Schlimme zu verhindern, sondern ebenso das, was keiner so genau zählt. Dinge, die Baudezernent Kersten Schröder-Doms umschreibt mit den Worten: „Ein optisch belastender Zustand soll nicht eintreten.“ Oder wenigstens nicht mehr so oft. Schmierereien an den Wänden, Hausrat, der in den Fluren lagert, zugekotete Treppenhäuser – und zwar nicht zugekotet von Hunden – all das hat es hier gegeben. „Mit den Kameras ist das alles viel besser geworden“, sagen die Leute von einer der Hausverwaltungen.

Nach der Pleite des ursprünglichen Eigentümers – dem Gewerkschafts-Unternehmen „Neue Heimat“ – im Jahr 1986 wurden die Wohnungen im Altländer Viertel eilig und zu Spottpreisen verkauft, meist einzeln. Auf die Käufer schaute man nicht so genau, einige lebten im Viertel, andere haben es bis heute nicht mit eigenen Augen gesehen. Doch so verschieden sie sind, einig waren sie sich im Wunsch, Videoanlagen installieren zu lassen. Die Hausverwaltungen sind zuständig für deren Betrieb, gefördert wird er mit Zuschüssen aus dem Bund- und Länderprogramm „Soziale Stadt“.

„Die Stadt hat damals den Leuten versprochen, dass durch die Kameras der Vandalismus runtergeschraubt wird.“ Jürgen Hoffmann sitzt auf einem abgewetzten Stoffsofa und raucht eine Zigarette, die er selbst gestopft hat. Nur wenige Möbel stehen in seiner kleinen Zweizimmerwohnung – aber alles ist seins; seit drei Jahren, als der arbeitslose Maler nicht viel mehr als 1000 Euro an den Vorbesitzer zahlte. Wohnungseigentümer Jürgen Hoffmann stimmte auf einer Eigentümerversammlung gegen die Kameraüberwachung in seinem Haus, erfolglos, seitdem zahlt er dafür monatlich etwa 20 Euro auf ein Betriebskostenkonto, ohne sie zu wollen.

Als Jürgen Hoffmann das erste Mal von dem Vorhaben hörte, das er rechtlich gesehen mitinitiiert hat, da konnte er sich zunächst noch dafür begeistern. Im Haus sah es wirklich nicht schön aus, vor allem am Eingang, und auch der Fahrstuhl war schummrig. Dann aber hörte Hoffmann, dass die Kameras auch auf den Treppenfluren installiert werden sollen, überall. „Da habe ich mir gedacht: Jedes Mal, wenn ich meine Wohnung verlasse, werde ich überwacht. Das war mir zu viel.“

Eines Tages kam Jürgen Hoffmann dann der Gedanke mit den Schildern: Er schnitt aus Pappkartons Rechtecke heraus und schrieb Parolen darauf. Irgendetwas, das ihm gerade einfiel. Das Ergebnis hängte er dann in sein Fenster. „Videoüberwachung = Stader Ghetto“ war dann dort zu lesen. Oder: „Gestapo, Stasi, die sind weg, Videokameras erfüllen den gleichen Zweck“. Viele seiner Nachbarn hätten ihm dafür auf die Schulter geklopft, sagt er. Die Leute von der Wohnungseigentümergemeinschaft allerdings sahen es anders und wollten ihn zum Verkauf drängen. „Herr Hoffmann diffamiert“, die Schilder in seinem Fenster seien „beleidigend“, steht im Protokoll einer Eigentümerversammlung vom Mai diesen Jahres. Seitdem hängt Jürgen Hoffmann keine Schilder mehr auf.

Akzeptiert hat er die Kameras jedoch noch lange nicht, bis heute reagiert er auf deren Anwesenheit – vielleicht mehr emotional als durchdacht: Dieses Jahr feierte er seinen 50. Geburtstag. Das Fest fiel ziemlich klein aus, einige eingeladene Gäste kamen nicht – was womöglich auch an der Art lag, in der er seine Einladungen aussprach: „Ich würde mich freuen, wenn ihr kommt. Aber ihr müsst mit der Videoüberwachung klarkommen.“ Wenn Jürgen Hoffmann mit seiner Lebensgefährtin im Treppenhaus ist, vermeidet er Umarmungen und Küsse: „Ich habe Angst, dass irgendjemand im Büro sitzt und sagt: Guck dir mal die beiden Idioten an.“ Situationen, die zuvor als privat empfunden wurden, gelten im Altländer Viertel heute als öffentlich.

Vor einiger Zeit gab es im Viertel eine Diskussion unter den muslimischen Frauen: Jahrelang hatten sie die Treppenhäuser als Teil ihrer Privatsphäre betrachtet, hatten sich deshalb dort ohne Kopftuch bewegt. Das ist inzwischen vorbei. „Sie sind zu dem Entschluss gekommen: Durch die Kameras könnte uns jemand Fremdes sehen“, sagt ein Sozialarbeiter aus dem Viertel.

Wer genau dieser Jemand sein könnte, offenbaren die Hausverwaltungen nicht. Eine spricht von „speziell engagierten Leuten, die sich mit der Technik auskennen“, welche die Aufzeichnungen auch nur dann sichten würden, wenn es etwas aufzuklären gebe, etwa eine Schmiererei. Eine andere Verwaltung sagt, dass Hausmeister die Bänder sichten. Drei bis vier Tage würden die Bilder aufbewahrt, für mehr würden die Kapazitäten nicht ausreichen. Die Mauern und Wände im Altländer Viertel haben nicht nur Augen, sondern auch ein Gedächtnis, wenn auch bloß ein kurzes.

Bei den Kameras neben den Mülltonnen hingegen ist es anders. Sie sind zu Testzwecken im Altländer Viertel, sie filmen die Menschen beim Müllwegwerfen und dabei, wie sie sich direkt an der Tonne mit einer Chipkarte identifizieren, erst dann lässt sich der Behälter öffnen. Wer einige Wochen lang nichts weggeworfen hat, bekommt Post vom Ordnungsamt. Wegen des Verdachts der wilden Müllentsorgung.
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