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Gruppe 49

Etwa die Hälfte aller Deutschen spielt Lotto. Wenn
die Leute wüssten, was nach einem Hauptgewinn
auf sie zukommt, würden sie es sein lassen.


Dummy, Heft 21, Winter 2008/09


Lutz Trabalski hat einen schweren Job, denn ein großer Teil seiner Arbeit besteht darin, Leuten klarzumachen, wie verzweifelt ihre Lage ist. Die         Menschen, die sein kahles Büro im Berliner Bezirk Wilmersdorf betreten, kommen mit zitternden Händen, freudig erregter Stimme, manchmal sogar einer Alkoholfahne – wenn sie wieder gehen, sind sie meistens still und schauen auf den Boden. Um jemanden soweit zu kriegen, dafür genügen Trabalski zwei Fragen: „Wenn ich die Leute darauf anspreche, was sie sich wünschen oder wen sie bereits über ihren Gewinn informiert haben, werden sie meistens sehr schnell ernst. 80 bis 90 Prozent aller Gespräche laufen so“, sagt er.

Lutz Trabalski arbeitet bei der Deutschen Klassenlotterie Berlin, seinen Beruf bezeichnet er als „Leiter Kundenservice“, zuständig für die „Großgewinnabwicklung“. Anders gesagt: Wer zu Trabalski kommt, muss einen Beleg über einen Tippschein vorweisen, bei dem die angekreuzten Zahlen möglichst genau mit denen der letzten Lottoziehung übereinstimmen und wird dann bald reich sein – Trabalskis Job ist es, dafür zu sorgen, dass das auch so bleibt. Deswegen reicht es auch nicht, einfach den Beleg abzugeben – jeder Berliner Lottogewinner muss vor der Auszahlung ein Gespräch mit Trabalski oder einem seiner Kollegen überstehen. Wie auf dem Amt. „Ein Lottogewinn beamt die Leute manchmal in eine völlig andere Welt“, sagt Trabalski.

Die wenigsten Lottomillionäre haben eine Ahnung, was auf sie zukommt – denn nichts ist leichter, als mit dem vielen Geld unglücklich zu werden: Ein Millionenbetrag kann einem Menschen in kürzester Zeit zwischen den Fingern zerrinnen, ihn aber genauso sehr ein Leben lang erdrücken. Wer den Jackpot knackt, kann schnell viele neue Freunde finden, sich aber auch Feinde machen – oder abtauchen und vereinsamen. Denn Lottogewinner, die als solche eigentlich keine Sorgen mehr haben, sind gut darin, sich neue zuzulegen. Genau deswegen. Welche Probleme sie bekommen, das ist ganz individuell.

Den vielleicht bekanntesten aller Wege, mit Lotto unglücklich zu werden, beschritt schon der erste deutsche Hauptgewinner überhaupt: Walter Knoblauch, der als Hausierer Bürsten und Schnürsenkel verkaufte, gewann im Jahr 1956 die heute vergleichsweise bescheidene, damals jedoch horrende Summe von 500.000 Mark. Nachdem er knappe zwei Wochen gefeiert hatte, legte er sich zunächst einen Bungalow im Wert von 50.000 Mark zu. Auf das Auto, das er sich dann kaufte, folgte ein Zweitwagen (12.000 Mark), anschließend benötigte er noch einen Sportflitzer (21.000 Mark). Die opulente Hochzeit mit seiner Lisbeth, die auch Kellnerin in seiner Stammkneipe war, kostete ihn 20.000 Mark, hinzu kamen die 50.000, die er am darauffolgenden Tag an Menschen verteilte, die behaupteten, sie seien arm. Es folgten ein eigenes Hotel, das nicht lief (100.000 Mark), das Animiermädchen Rita und viel Freibier. 22 Monate dauerte es, dann verkaufte Walter Knoblauch wieder Bürsten und Schnürsenkel.

„Ich rate den Leuten, ihre Arbeit nicht sofort zu kündigen und auch nicht sofort viel Geld ausgeben. Wenn sie sich belohnen und was schönes kaufen – das ist in Ordnung. Aber wer am nächsten Tag mit einem S-Klasse-Mercedes vorfährt, kommt in Erklärungsnot.“ Einen Fall, der so extrem war wie der von Walter Knoblauch hat Lutz Trabalski noch nicht erlebt. Das Grundproblem ist aber bei allen Lottogewinnern dasselbe: Jeder Mensch, der davon weiß, ist potentiell einer zu viel: „Es gibt häufig Freunde, die sagen: ‚Du hast gewonnen, also musst du mir jetzt etwas borgen.’ Da wird oft eine Erwartungshaltung aufgebaut, zu der die Leute kein Recht haben.“

Es ist fast wie im Klischee: Lottogewinner lernen schnell Freunde kennen; sowohl neue wie alte richtig. Ebenso Anlageberater. Oder auch einfach nur Menschen, die gesund sind – diese Erfahrung musste im Jahr 2000 ein Brite machen, der nach dem Gewinn von umgerechnet 13 Millionen Euro so leichtsinnig war, gemeinsam mit seiner Lottogesellschaft eine Pressekonferenz zu geben, auf der er nebenbei von seiner Nierenerkrankung erzählte. Noch am selben Tag boten sich ihm Dutzende Menschen als Spender an. Genauer gesagt: Als Verkäufer.

Es ist diese Form von Öffentlichkeit, vor der Lutz Trabalski seine Lottogewinner warnt und welche die meisten zu vermeiden wissen – das allerdings bringt ganz andere Probleme mit sich. Wie etwa bei jenem Mann, der 1,3 Millionen Euro gewonnen hatte und der Trabalskis Büro in einem besonders nachdenklichen Zustand verließ. Von nun an klingelte einmal am Tag Trabalskis Telefon und eine flatterige Stimme sagte: „Ich bin immer noch nicht ruhiger geworden.“ Jetzt, wo er reich sei, habe er Angst, ausgenutzt zu werden, sagte der Mann. Und zu Hause, da könne man ihn ausrauben. Nein, andere Leute wolle er im Moment nicht dort haben. „Lottogewinner haben oft Probleme, zu differenzieren: Ist das jetzt bloß ein Kumpel, der mir von der Krankheit seiner Mutter erzählt oder ein Bittsteller?“, sagt Trabalski.

Ähnlich ging es einem Gewinner, der in einer kleinen Plattenbauwohnung in Ostberlin wohnte – und daran trotz des hohen Millionenbetrags, den er nun besaß, nichts ändern wollte. Warum auch? Der Mann lebte seit Jahrzehnten in dem Gebäude, sein Stockwerk war seine eigene Kleinstadt, in der jeder jeden kannte. Leider. „Plötzlich saß der da und überlegte, wen er nun einweihen könne und wen nicht. Ging die ganze Nachbarschaft durch. Ich bin mir sicher, hätte der nur 500.000 Euro gewonnen, wäre der glücklicher geworden.“ Denn Leute, die knapp am Jackpot vorbeischrammen werden meist in Ruhe gelassen. Ein Fünfer mit Zusatzzahl bedeutet vielleicht, dass ein Mensch nicht in die Lage kommt, seine Arbeit zu kündigen – aber deswegen auch sozialen Frieden.

„Die Hemmschwelle, einen Menschen, der immer schon reich war, nach Geld zu fragen, ist viel höher als bei einem Lottomillionär. Ein Lottogewinner, das ist jemand wie du und ich. Nur mit Geld.“ Christoph Lau ist Urheber der Studie „Die Relativitätstheorie des Glücks“, für die er gemeinsam mit seinem Mitautor Ludwig Kramer das Leben von Lottomillionären untersucht hat. Lau zufolge haben Lottogewinner eigentlich nur die Möglichkeit, sich zwischen zwei Fehlern zu entscheiden: Wer andere Menschen darüber informiert, bekommt schnell Schwierigkeiten, klar. Wer es nicht tut, aber eben auch: „Es gehört zum Glück, andere daran teilhaben zu lassen. Wenn die Leute nun schweigen, setzen sie sich unter Druck.

“Was ist, wenn das eigene Kind sich in der Schule verplappert? Kann man seinem Partner überhaupt trauen? Etwa ein Drittel aller Gewinner lebt mit Menschen zusammen, die nichts davon wissen. Auch das ist ein Grundproblem von Lottogewinnern: Jeder Mensch, den sie im Unwissen lassen, ist potentiell einer zu viel. Denn Lottomillionäre benötigen eigentlich dringend Hilfe: „Die Situation ist durchaus zu vergleichen mit der von Unfallopfern: Natürlich ist ein Lottogewinn angenehmer. Aber beides ist eine Extremsituation, die bewältigt werden muss“, sagt Lau.

Wer keinen Beistand hat, ist alleine mit einer Situation, die Lau als „emotionale Inflation“ bezeichnet: Irgendwann, meistens nach etwa einem Jahr, sind alle Träume verwirklicht. Haus, Auto, Reise – oder ein volles Bankkonto. Aber was ist, wenn ein Mensch nun feststellt, nicht glücklicher zu sein als in der Zeit vor dem Lottogewinn? Sechs Richtige, das ist so unumkehrbar wie der Tod – denn wer den Reichtum kennt, kann nicht mehr davon träumen. Wer es nicht schafft, einen neuen Glücksbegriff zu entwickeln, wird aus dieser Falle nicht mehr herauskommen.

Und doch gibt es sie: die anderen Lottogewinner. Menschen, die mit dem Spiel glücklich werden. Für Lau geht das ganz einfach: „Wer Lotto spielt, denkt in der Zeit zwischen Tippabgabe und Ziehung über einen möglichen Gewinn nach. Für die Leute ist das ein Zustand angenehmer Hoffnung.“ Lotto, das ist nicht das Spiel, das einige wenige Menschen sehr glücklich macht, sondern viele ein bisschen. Pech hat nur, wer den Jackpot knackt.

           
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