Sebastian_Stoll


 

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Abriss im Arbeiterviertel

Der Duisburger Stadtteil Bruckhausen liegt in unmittelbarer
Nähe der Thyssen-Krupp-Stahlwerke. Das wird dem Viertel
nun zum Verhängnis, denn es soll zu großen Teilen einem
Landschaftspark weichen, der die Umweltbelastungen für
die verbleibenden Bewohner senkt. 1.500 Menschen
verlieren ihre Wohnungen.



Zeitzeichen, Ausgabe 01 / 2009


Özay Karabulut erinnert sich noch gut an die Frau, die er in seiner Kindheit "Oma" nannte. Alt war sie, wie Omas das so an sich haben, und immer, wenn seine Familie den islamischen Fastenmonat Ramadan beging, kam Oma vorbei und schaute, wie es ihm ging. Manchmal feierte auch Oma ein Fest, gemeinsam mit Opa. Özay Karabulut war dann ein anständiger Enkel, klingelte an der Tür der Nachbarwohnung und wünschte: frohe Weihnachten. "Ich war auch sonst oft bei Oma und Opa, meine Eltern wussten: Die achten schon auf mich. Dass meine Großeltern keine Türken sind, daran habe ich nie gedacht", sagt er. Über ein Vierteljahrhundert ist das nun her. Inzwischen ist die Oma tot; und der Stadtteil, in dem sie lebte, liegt im Sterben.

Özay Karabulut wuchs in Duisburg-Bruckhausen auf. Das ist ein Ort, der vielleicht heute noch ein wenig von dem verkörpert, was sich viele Leute unter dem Ruhrgebiet vorstellen: Verrußte Häuser gibt es hier und Hochöfen von Thyssen-Krupp. Gigantische Öfen, Kathedralen aus Metall. Unablässig husten sie Rauch in die Luft; steht der Wind ungünstig, legt sich ein feiner weißer Schleier über das Viertel. Früher, als Kommissar Schimanski hier noch regelmäßig in eine Schlägerei geriet, stank es, und der Rauch war schwarz, heute ist er geruchlos. Trotzdem leidet Bruckhausen, Häuser bröckeln, Wohnungen stehen leer, und das, was man früher eben "Rauch" nannte, sind heute "Emissionen, die regelmäßig Grenzwerte überschreiten".

"Grüngürtel Nord" heißt das Projekt, das die Situation im Viertel verbessern soll: Zwischen Bruckhausen und den Industrieanlagen möchte die Stadt Duisburg einen Park errichten, bis zu 250 Meter breit. Da es so viel Platz in einem Ballungsraum wie Duisburg nicht gibt, muss er geschaffen werden: Thyssen-Krupp produziert nicht nur Lärm und Rauch, sondern auch Stahl, und das nach eigenen Angaben mit 1.200 Leuten; und das in einer Stadt mit einer Arbeitslosenquote von etwa 14 Prozent. Also trifft es das Viertel - zumindest weite Teile davon: Fast 200 Häuser sollen dem Grüngürtel weichen, betroffen ist davon hauptsächlich Bruckhausen, in dem etwa 6.000 Menschen leben, aber auch die angrenzenden Stadtteile Marxloh und Beeck. Etwa 1.500 Menschen müssen sich deshalb eine neue Wohnung suchen - die aber wollen nicht einsehen, dass Umweltschutz in diesem Fall gleichbedeutend ist mit Umsiedlung.

"Thyssen-Krupp betrachtet Bruckhausen als Teil des Werksgeländes. Nur deshalb müssen wir hier weg." Özay Karabulut, 37 Jahre, sitzt auf einer cremefarbenen Couch im Wohnzimmer seines kleinen Hauses und schaut gedankenverloren auf den ausgeschalteten Großbildfernseher, der ihm gegenüber thront. Karabulut ist einer, der es geschafft hat - vielleicht auch, weil das hier relativ einfach ist: Etwa 150.000 Euro investierte der Bahnangestellte vor drei Jahren, dafür bekam er ein dreistöckiges Haus. Ein kleines Haus, das neben der Autobahn liegt - aber sein eigenes.

Kaum ein halbes Jahr, nachdem Özay Karabulut mit seiner Familie das Haus bezogen hatte, tauchten in den Zeitungen erste Berichte über den geplanten Grüngürtel auf: Von einer "Industrienahtstelle" war da die Rede und davon, dass die Bewohner der angrenzenden Gebiete hohen Belastungen ausgesetzt seien. Als wenn er das nicht selbst gewusst hätte. Die Berichte kamen immer häufiger, also schloss sich Karabulut mit Nachbarn und Freunden zur igg zusammen, zur "Initiative gegen den Grüngürtel". Nun sprach man mit Ratsherren der Stadt, versuchte, sie davon zu überzeugen, dass man kein Problem damit hätte, in jener "Industrienahtstelle" zu leben. Mit Erfolg: Das Abschlussgutachten vom Oktober vergangenen Jahres kommt zu dem Ergebnis, dass ein Grünstreifen die Emissionen nicht verringern würde, eigentlich schien die Begründung für den Abriss damit entfallen. Allerdings wurde zugleich festgestellt, dass viele Häuser im Viertel "städtebauliche Missstände" aufwiesen, zudem sei es laut. Also würde der Grüngürtel doch kommen.

Seitdem sieht sich Özay Karabulut als Opfer, spricht von "lateinamerikanischen Verhältnissen". Viele Leute im Stadtrat hätten sich die Einwände der IGG angehört und der Initiative schließlich auch Recht gegeben. "Und dann entscheiden sie ganz anders. Wenn Thyssen sagt: spring, dann springen die auch." Özay Karabulut, ein Mann mit einer hohen Stirn und einem kleinen Wohlstandsbauch, erzählt solche Dinge mit der Präzision eines Maschinengewehrs: laut, schnell und in immer gleicher Tonlage. Seine Sprache wird erst dann ruhiger, wenn er über Bruckhausen redet. Über das, was weg muss. "In den Medien hört man immer nur, in Bruckhausen gebe es nichts als Elend. Dabei leben hier Menschen verschiedenster Nationalitäten ohne Probleme zusammen. Wer interessiert sich schon dafür, dass Bruckhausen die niedrigste Kriminalitätsrate der ganzen Stadt hat?"

Türkische und deutsche Fahnen hängen aus den Fenstern Bruckhausen mag friedlich sein - dennoch ist die Armut vieler seiner Einwohner offensichtlich: Die Hauseingänge gleichen häufig Irrgärten, Klingelschilder sind - wenn überhaupt vorhanden - meist mit der Hand beschriftet und verblichen. Das Zentrum des Viertels wird gebildet von einem türkischen Supermarkt, der billiger ist als ein Discounter und in den sich häufig Leute verirren, die Plastiktüten voller leerer Flaschen mit sich tragen.

Was an Geld fehlt, haben die Menschen an Zeit: In Bruckhausen rennt man nicht, sondern man schlendert oder man sitzt; Letzteres meistens in Gruppen, von denen auch an Wochentagen viele auf den verkehrsberuhigten Straßen und in den vielen kleinen Parks zu finden sind.

Was es in Bruckhausen sonst noch gibt, sind Flaggen: türkische und deutsche, meistens hängen gleich beide aus jeweils demselben Fenster. Bruckhausen hat einen Migrantenanteil von etwa 60 Prozent.

"Wir haben hier sechs verschiedene Moscheevereine. Mit einigen läuft die Zusammenarbeit hervorragend, mit anderen gibt es immer wieder Reibungspunkte." Rafael Nikodemus ist einer, der das Viertel gut kennt. Nikodemus, 48 Jahre, arbeitet heute in Düsseldorf als Kirchenrat im Landeskirchenamt der Evangelischen Kirche im Rheinland, war aber bis Anfang des Jahres Pfarrer im Viertel. Zehn Jahre lang hat Nikodemus diesen Job gemacht, in Personalunion mit dem des "Islambeauftragten" - das ist eine Stelle, bei der es um etwas geht, das die Rheinische Kirche auf ihrer Homepage als "interreligiöse Stadtteilarbeit" bezeichnet.

"Interreligiöse Stadtteilarbeit", das bedeutete in Nikodemus' Alltag zum Beispiel, Moscheevereinen, die eher zu denen mit den Reibungspunkten gehören, gewisse Regeln des Zusammenlebens nahezubringen. Das allerdings war oft schwierig, da etwa der Verband Islamischer Kulturzentren (VIZK) nicht Bescheid gab, wenn er wieder einmal ein illegales Schülerwohnheim gründete. Einmal kam Nikodemus zu Ohren, dass der VIZK seit geraumer Zeit auf einem muslimischen Begräbnisritual bestand, demzufolge ein Leichnam im Freien aufgebahrt werden muss. Allerdings fehlten im Viertel geeignete Plätze dafür - schließlich stellte sich heraus, dass der Verband seine Begräbnisrituale auf dem Marktplatz feierte. Mit einem Toten auf der Tischtennisplatte. "Wir haben dann dafür gesorgt, dass auf dem Friedhof ein Platz für die Feiern geschaffen wird."

Rafael Nikodemus kennt ihn, den Ruf, den Bruckhausen bei vielen Menschen außerhalb des Viertels hat: Es ist bekannt als ein Stadtteil, in dem nur noch diejenigen Deutschen geblieben sind, die sich eine Wohnung anderswo nicht leisten können, und in dem viele Moslems machen, was sie wollen. Und doch ist das nur ein Teil der Wahrheit: Alltag im Viertel seien ebenso gemeinsame religiöse Feiern - nicht nur zu den großen Festen wie Weihnachten und Ramadan, sondern auch etwa zur Einschulung der Kinder. So, wie es die Moslems gebe, die sich abschotten, gebe es eben auch genau jene, die sich um ein Miteinander bemühten. Glaubt man Nikodemus, dann ist das Problem von Bruckhausen nicht, dass es hier viele Türken gibt - sondern zu wenige Menschen mit anderem Hintergrund: "Dem Stadtteil würde es guttun, wenn die Bevölkerung ein bisschen gemischter wäre. Wenn Bruckhausen schöner wäre, dann würden sicher auch Menschen aus anderen Vierteln hierher ziehen. Zusammen mit anderen Maßnahmen könnte ein Grüngürtel einen Beitrag zur Aufwertung des Viertels leisten."

Genau das bezweifelt Özay Karabulut. Wenn erst weite Teile des Viertels weg seien, dann werde es auch an Infrastruktur fehlen. Geschäfte würden zumachen und weitere Menschen das Viertel verlassen. Irgendwann müssten dann auch die Grundschule schließen und die Kindergärten. "Früher oder später wird Bruckhausen nicht mehr lebensfähig sein. Dann wird Thyssen-Krupp den Rest des Viertels übernehmen. Genau wie damals in Alsum."

Alsum, das war einmal ein Duisburger Stadtteil, in dem über 3.000 Menschen lebten. Während des Krieges wurde Alsum von Fliegerangriffen der Alliierten schwer getroffen - und existierte dennoch weiter, auch wenn sich seine Einwohnerzahl halbiert hatte. In den Jahren darauf stellte man fest, dass Alsum immer weiter absank, teilweise dramatisch - der Bergbau unterhöhlte das Viertel. Am 16. Dezember 1954 schließlich beschloss der Rat der Stadt Duisburg, Alsum abzureißen, es sei nicht mehr zu retten. Also geschah - nichts. Alsum existierte noch bis 1965, in jenem Jahr begann die damalige August-Thyssen-Hütte mit ihrer Expansion auf das Gebiet, das heute nur noch den Namen "Alsum" trägt.

"Den Abriss Alsums haben wir nicht zu verantworten. Ohnehin wurde ein Teil Alsums nach dem Krieg als Müllkippe genutzt." Gunnar Still ist Leiter der Abteilung Umweltschutz bei Thyssen- Krupp, so etwas gibt es im Konzern. In seiner Sprache ist der Grüngürtel ein "PPP-Projekt", wobei "PPP" für "Public Private Partnership" steht und umschreiben soll, dass Thyssen-Krupp den Bau des Grüngürtels mit 36 Millionen Euro bezuschusst, also genau der Hälfte der Baukosten. Das geschehe vor allem im Sinne nachbarschaftlicher Beziehungen, das Unternehmen fühle sich eben verpflichtet, eine Aufwertung Bruckhausens zu unterstützen. Allerdings räumt er ein:
"Natürlich sind wir schon auf ein gewisses Image bedacht: Wenn wir Besucher haben, die dort entlangfahren, dann sehen diese zur Einstimmung das tiefste Ruhrgebiet - das es ja so eigentlich gar nicht mehr gibt. Was da steht, macht nicht gerade den besten Eindruck."

Auf einem Punkt allerdings beharrt Still: Thyssen-Krupp ziehe keine "direkten Vorteile" aus dem Bau des Grüngürtels. "Wir wollen uns nicht vergrößern. Ein Bau auf dem Gelände des Grüngürtels wäre heute gar nicht mehr erlaubt. Die Stadt könnte das gar nicht genehmigen."

In Nordrhein-Westfalen gibt es eine Regelung mit dem Namen "Abstandserlass", die ungefähr das bedeutet, wonach das Wort schon klingt: Unternehmen, die neue Anlagen bauen, müssen damit einen bestimmten Abstand zu Wohngebieten einhalten - wie viel, das hängt von der jeweiligen Anlage ab. So gesehen wäre es für Thyssen-Krupp gar nicht möglich, auf dem Gelände des Grüngürtels zu bauen, zu nahe wäre man den verbliebenen Häusern. Anders verhielte es sich bei einer Expansion auf dem bestehenden Firmengelände: Durch den Grüngürtel wäre schließlich genau das vorhanden, was der Abstandserlass fordert - Abstand. Thyssen-Krupp plant gerade einen neuen Hochofen. China wächst, die Stahlbranche boomt.

Darüber hinaus gibt es im Viertel noch eine Feinstaubmessstation. Sie befindet sich in einem kleinen Park, etwa zwanzig Meter von der ersten Häuserzeile entfernt und ebenso weit von den Hochöfen auf der anderen Seite. Zweck der Station ist es, die Belastungen zu messen, die im Wohngebiet ankommen. Aber wenn es nun dort gar kein Wohngebiet mehr gibt? Die Bewohner Bruckhausens fürchten, dass in so einem Fall die Station wandern könnte - um eben die Belastungen dort zu messen, wo sich dann nun einmal das Wohngebiet befindet. Vorhersagen lässt sich das nicht - aber Benjamin Bongardt vom Naturschutzbund Deutschland (NABU) hält so etwas für möglich: "Wenn es kein Wohngebiet mehr gäbe, dann gäbe es auch keine Gesundheitsgefährdung. Möglicherweise hätte die Station dann für die Behörden ihren
ursprünglichen Zweck verloren." Theoretisch könnte Thyssen-Krupp so also seine Emissionen reduzieren, ohne dies tatsächlich zu tun - was auch deswegen von Bedeutung ist, da im Jahr 2010 die bestehende Feinstaubrichtlinie nicht nur verschärft werden, sondern auch auf andere Arten von Emissionen ausgedehnt werden soll.

"72 Millionen Euro. Damit könnte man das Viertel so gut sanieren, dass die Leute gerne hierher ziehen würden." Özay Karabulut hat noch nicht aufgegeben. Mit seiner Bürgerinitiative strebt er nun eine Normenkontrollklage an. Seiner Meinung nach basieren viele Daten im Abschlussgutachten auf unseriösen Messungen, und das will er beweisen. Denn Umweltschutz, glaubt er, sei etwas, worum es den Verantwortlichen gar nicht geht. Noch nie ging. "Früher war es hier noch viel dreckiger und lauter. Das hat keinen interessiert. Und jetzt, wo es langsam besser wird, reißt man alles ab."

Zu den Häusern, die fort sollen, gehören auch die an der Kaiser-Wilhelm-Straße, einer Hauptverkehrsstraße, die an die Hochöfen grenzt, und von deren Verschwinden im Abschlussgutachten nicht die Rede ist. Ein kleiner türkischer Junge, vielleicht fünf Jahre alt, läuft hier den Bürgersteig entlang, vorbei an vielen Menschen, die auf wackligen Stühlen sitzen, und beweist ihnen allen, wie gut er Deutsch spricht: "Ficken, ficken!", ruft er und läuft weiter. Ein Mann hält ihn an, Deutscher, und brüllt: "Wo hat der diese Sprache her?" Und doch ist alles halb so schlimm: Anschließend streicht er dem Jungen durchs Haar und lacht dabei. Bruckhausen liegt vielleicht im Sterben, aber nur vielleicht.
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