Sebastian_Stoll


 

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Leben ohne Erinnerung

Auf einmal wusste Jonathan nicht mehr, wie
er heißt und wo er wohnt. Porträt eines
 Mannes, der an Amnesie leidet.



Frankfurter Rundschau, 10.02.2007


Jonathans Geschichte beginnt an einem Frühlingstag. Sie fängt an mit einer Parkbank aus Edelstahl, auf der er sich entspannt zurücklehnt. Vögel zwitschern. Langsam, ganz langsam, gleitet sein Blick zum nahe gelegenen See. Enten und Schwäne schwimmen darauf, sie schnattern. Jonathan genießt die warme Nachmittagssonne. Dann überlegt er, wo er ist. Er weiß es nicht. Er fragt sich, wie er heißt. Er erinnert sich nicht. Stattdessen: Panik, Schwitzen, Herzrasen.

Der Tag, an dem Jonathan merkte, dass er sich an nichts mehr erinnern konnte, war der 12. April 2005, ein Montag. Bis heute weiß der Mann fast nichts mehr aus den 53 Lebensjahren, die dem Nachmittag im Hamburger Park "Planten un Blomen" vorangingen. Die Behörden konnten nicht einmal rekonstruieren, wie er von seinem Wohnort Berlin nach Hamburg gekommen war. Auch auf seinen Namen kam Jonathan nicht von selbst - nach Berichten in der Hamburger Presse meldete sich ein entfernter Bekannter, so dass die Polizei seine Identität klären konnte; eine Woche später. Jonathan heißt eigentlich Heinz-Jürgen Overfeld, aber er sagt, dass ihn seit seiner Kindheit alle Jonathan nennen.

Von Hamburg ist Jonathan einen Monat später nach Berlin zurückgekehrt. Er wurde zunächst in der Psychatrie der Charité betreut, heute lebt er in einer kleinen Wohnung in Reinickendorf - allein, aber ein Betreuer besucht ihn dort regelmäßig. Für das Gespräch hat er eine Kneipe in Mitte ausgewählt. Er erzählt von sich und raucht viele selbstgedrehte Zigaretten, fährt sich oft durchs schlohweiße, kurze Haar. "Vielleicht meldet sich ja jemand, der mich kennt", sagt er und hofft, so mehr über seine Vergangenheit zu erfahren. Er wirkt unruhig, manchmal hat man das Gefühl, er wisse nicht, ob er lächeln oder betrübt schauen soll. Meistens findet er die richtigen Worte, nur manchmal wundert man sich, wenn er beispielsweise "Enten und Scheunen" sagt statt "Enten und Schwäne".

An jenem Nachmittag im April, da wusste Jonathan nicht, dass in dem Hamburger Park ein Schwan ein Schwan ist und eine Parkbank eine Parkbank. Alles kam ihm irgendwie vertraut vor, aber es fehlten die Wörter. Nicht alle; was eine Ente ist, wusste er die ganze Zeit. Umder Panik Herr zu werden, begann Jonathan eine ziellose Wanderung. Als er an einer gut besuchten Ausflugsgaststätte vorbeikam, entschied er, es sei ein guter Moment zum Innehalten.

Eine junge Frau kam auf Jonathan zu und fragte, was er haben wolle. Er wusste sich zu helfen: ein Blick zum Nebentisch. "Das will ich auch!" "Cappuccino?" "Genau!" Die Frau brachte den Cappuccino, ebenso ein Stück "Apfelkuchen", ganz wie es der Mann am Nachbartisch bestellt hatte. Dann sagte sie irgendetwas mit "vier Euro". Jonathan kam zugute, dass er auf dem Weg durch den Park seine Jackentaschen durchwühlt hatte.Den erhofften Hinweis auf seinen Namen hatte er nicht finden können, dafür etwas mit der Aufschrift 50 Euro. Trotzdem löste er die Aufgabe erst im zweiten Versuch: Er sah einfach zu schlecht, den unnützen Gegenstand, der um seinen Hals baumelte, identifizierte er erst später als seine Brille. Und so reichte er der Bedienung zunächst einen Geldschein, der so ähnlich aussah wie der Euro-Schein, tatsächlich aber die Aufschrift 100 Schweizer Franken trug.

Der Cappuccino und der Apfelkuchen waren lecker, doch irgendetwas fehlte noch. Der Mann von nebenan hielt mittlerweile etwas Längliches in der Hand, etwas das glühte und qualmte. Die Frau kam ein weiteres Mal. Derselbe Blick, derselbe Satz. Er bekam eine Schachtel Marlboro. "Widerlich!" Jonathan deutet auf sein Päckchen Schwarzer Krauser. "Später habe ich die ganze Schachtel einem jungen Mann geschenkt, der nach Zigaretten fragte." Bunte Haare habe der gehabt und sich sehr gefreut.

Warum ein Mensch sein Gedächtnis verliert, dafür gibt es verschiedene Ursachen. In vielen Fällen hat die Amnesie einen organischen Hintergrund: Menschen verunglücken, haben einen Schlaganfall oder einen Herzstillstand. Dabei erleiden sie einen Hirnschaden. Sehr häufig ist Gedächtnisverlust nicht die eigentliche Krankheit, sondern ein Symptom; etwa bei Alzheimer-Patienten. Seltener ist dieAmnesie psychogen:Menschen, die Schreckliches erlebt haben, spalten unbewusst Teile ihrer Person ab. Bei Jonathan waren es viele verdrängte Traumata aus der Jugend. So viel weiß er heute wieder.

"Es gibt eine Faustregel: Im ersten halben Jahr ist die Wahrscheinlichkeit, dass verlorene Gedächtnisinhalte wiederkommen, am größten. Danach sinkt sie", sagt die Psychologin Nadine Reinhold. Sie hat Jonathans Amnesie diagnostiziert. Das menschliche Gedächtnis ist ihr Spezialgebiet. In ihrem Büro in Bielefeld erzählt sie von zwei Grundformen des Gedächtnisverlustes: vorübergehende und rückwirkende Amnesien. Kommen beide Formen zusammen, spricht man von einer globalen Amnesie. Menschen mit einer rückwirkenden Amnesie können sich nicht mehr an die Zeit vor ihrem Gedächtnisverlust erinnern, sie haben keine oder eine unvollständige Vergangenheit. Zu ihnen zählt Jonathan. Anterograden Amnestikern fehlt das Danach: Sie können sich nichts mehr merken. Manche begrüßen eine Person, die für eine Minute das Zimmer verlassen hat, als sei sie Jahre fort gewesen. Heilungschancen für Jonathan? Die Wahrscheinlichkeit, dass er sich irgendwann wieder an alles erinnern wird, ist eher gering - dafür ist zu viel Zeit vergangen. Doch Jonathan hat keinen Hirnschaden, er ist fähig, alles neu zu lernen. "Nach fünf bis zehn Jahren sind viele Betroffene wieder in der Lage, ihren Alltag alleine zu meistern", sagt die Psychologin.

"Fugue", zu Deutsch: Flucht, nennen Wissenschaftler wie Nadine Reinhold ein extrem seltenes Phänomen, das manchmal einem psychogenen Gedächtnisverlust vorausgeht: Plötzlich verlassen Menschen ihre Wohnung oder ihren Arbeitsplatz. Stunden, Tage, manchmal sogar Wochen später tauchen sie wieder auf, oft hunderte, ja tausende Kilometer von ihrem Heimatort entfernt. An ihre Reise haben sie keine Erinnerung, in besonders schweren Fällen nicht mal an die Jahre davor. Auf ihren Wanderungen verhalten sie sich vollkommen unauffällig. Zumindest glaubt man das, gerade weil es noch nie gelungen ist, einen Menschen während einer Fugue zu beobachten.

Jonathan war gewandert. An diesem Frühlingstag im April lief er ziellos durch Hamburg.Wie lange genau, weiß niemand, aber es müssen Stundengewesen sein. Stunden, in denen er keinem Menschen auffiel, in denen es ihm gelang, Tabak und Blättchen zu kaufen. Stunden, in denen er irgendwie zum Hauptbahnhof gelangte. Am frühen Abend fragte ihn eine Mitarbeiterin der Bahnhofsmission, ob er etwas suche. Jonathan antwortete: "Ich suche mich selbst." Ein Rettungswagen brachte ihn ins Krankenhaus St. Georg. Von dort kam er noch am selben Abend in die Psychiatrie des Klinikums Nord.

Heute weiß Jonathan einiges aus seiner Vergangenheit, man hat sie ihm erzählt. Erinnern kann er sich nur an wenige Einzelheiten. Leichter war es bei den Wörtern. Nach wenigen Tagen waren viele wieder da, meistens, nachdem sie jemand benutzt hatte. Über das, was für andere Menschen selbstverständlich ist, rätselt Jonathan hingegen noch heute.

Als er zum ersten Mal wieder auf ein Fahrrad stieg, da wunderte er sich, wie leicht es zu fahren war. Nach wenigen Minuten, ganz plötzlich, hupten die Autofahrer und zeigten ihm alle möglichen Finger. Keiner hatte ihm gesagt, dass er nicht mit dem Rad auf die Autobahn darf. Bis heute kann Jonathan keine Schleife binden, er trägt Schuhe mit dicken, schwarzen Lederschnallen. Wenn er das Haus verlässt, nimmt er kein Bargeld mit. Seit er einmal einem Passanten 150 Euro in die Hand drückte, weiß er, dass er keinen Bezug zum Geld hat. Es sind für ihn nur Metall- oder Papierteile. Und dennoch: In einigen Bereichen ist Jonathan eine Vorstellung von Geld geblieben.Wenn er einkaufen will, lässt er sich welches von seinem Betreuer geben. "Im Supermarkt bin ich ein Pfennigfuchser."

Das größte Rätsel sind Emotionen. Manchmal sitzt Jonathan mit vielen anderen Menschen in der U-Bahn, drängelt in ein Kaufhaus oder wartet an einer Fußgängerampel. Dann kommt es gelegentlich vor, dass ihn jemand erkennt und ihn grüßt: "Hallo Jonathan." In solchen Momenten kommt wieder die Hilflosigkeit hoch, die Hände werden feucht, das Herz rast. Panik. Einmal verpasste er jemandem in so einem Moment einen Kinnhaken. "Ich weiß nicht, was Liebe ist oder Hass. Bei manchen Leuten, die ich sehe, spüre ich etwas, aber ich weiß nicht, was. Sicher, man hat mir erzählt, dass Liebe etwas Tolles ist und Hass etwas ganz Schlimmes. Aber ich weiß nicht, ob ich jemanden liebe oder hasse."

Trotz vieler Enttäuschungen kennt Jonathan auch Erfolge. Kleine Schlachten, die er in seinem alltäglichen Kampf gegen das Vergessen gewinnt: Sein erstes von ihm selbst gebratenes Spiegelei gehört dazu oder das Säubern einer verstopften Spüle. Doch das reicht ihm nicht: Wer keine Vergangenheit hat, der hat auch keine Zukunft, sagt er, wie soll er denn planen, wenn er das Ziel nicht kennt? Bis heute hofft er auf einen Moment wie damals im Park, nur umgekehrt: "Irgendein Impuls von außen und plötzlich ist alles wieder da." Er schnippt mit den Fingern. Aber es passiert nichts.

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